Autonomie versus Unverbundenheit:

 

Ich möchte hier an dieser Stelle gerne den Unterschied zwischen Autonomie und Unverbundenheit herausstellen. Zwei Definitionen, die wir auf den ersten Blick für sehr ähnlich halten könnten. Doch was unterscheidet sie?

 

 

Unabhängig sein, individuell sein, einzigartig, besonders, herausragend oder einfach autonom zu sein, gilt für die meisten Menschen heute als erstrebenswert. Bloß nicht Mainstream sein, Hauptsache sich abheben. Da können wir uns tatsächlich die Frage stellen, ob diese übersteigerte Form der Individualisierung nicht tatsächlich an sich schon wieder Mainstream ist?

Wir entwickeln Autonomie, wenn wir als Kinder in Sicherheit waren. Das bedeutet, dass wir mit unseren Bedürfnissen gesehen wurden, uns Halt gegeben wurde bei unseren Kümmernissen und wir Raum hatten, neugierig die Welt zu entdecken. Falls dies nicht der Fall war, entwickeln wir in der Regel abhängige Anteile, die Sicherheit im Außen suchen. Entweder bei anderen Menschen, oder in einer Mission, oder einem Projekt, oder, oder, oder. Oder es entwickeln sich Anteile, die der Meinung sind, niemanden zu brauchen und die überzeugt sind, sich nur auf sich selbst verlassen zu können.
Unverbundenheit ist eine Form von Unabhängigkeit, in der ich glaube, unabhängig von anderen Menschen existieren zu können. Niemanden zu brauchen, da das was ich brauche ohnehin von niemandem erkannt wird. Es sowieso am besten ist, Alles alleine zu machen. Auf niemanden angewiesen zu sein und sich somit auch um niemanden kümmern zu müssen.

Diese Sichtweise beruht auf einem Irrtum.

Als zutiefst bindungsorientierte Wesen können wir nicht unabhängig von anderen Menschen existieren. Wir müssen uns beziehen, um zu wachsen und uns zu entwickeln. Doch wie kommt es zu diesem Irrtum, dass ich meine unabhängig von anderen Menschen leben zu können, ich quasi ein Leben als „lonely wolf“ leben kann?

Zu denken, ich brauche niemanden, ist eine Pseudo-Autonomie, denn wir brauchen einander immer wieder. Die Fähigkeit, auch abhängig zu sein – und das klingt erstmal seltsam – ohne zu verzweifeln, oder auch umgekehrt, die Fähigkeit zu besitzen sich an jemanden zu binden, der dann eventuell für eine Weile, oder auch länger von uns abhängig ist, ohne zu denken, dass ertrage ich nicht, das ist der Weg hin zu wahrer Autonomie.

Hier nur ein paar kurze Worte dazu, wie es zu dieser Sichtweise kommen kann.

In Kürze könnte man sagen, dass ein Mensch der Bindung an andere Menschen als gefährlich oder unzuverlässig empfindet, eventuell die Idee entwickelt, ohne andere Menschen besser dran zu sein. Er entscheidet sich für ein Leben, in dem er weder andere Menschen braucht, noch auf sie Rücksicht nehmen muss. Somit wird er zu einem Menschen, der den Kontakt mit anderen Menschen meidet, ihn als schwierig empfindet, er das Gefühl hat abgelehnt zu werden und selbst auch ablehnend reagiert.

Doch diese Entscheidung fällen wir Mensch nie aus seinem wahren Wesenskern heraus, sondern deshalb, um sich vor Verletzungen auf den unterschiedlichsten Ebenen zu schützen. Diese Entscheidung bedeutet, sein Herz zu verschließen und nicht aus dem Vollen schöpfen zu können, sich selbst und andere auszugrenzen.
Doch was ist jetzt der Unterschied zwischen dieser Form von Unabhängigkeit und Autonomie?
Autonomie ist für mein Empfinden gleichzusetzen mit Selbstbestimmung, sowohl in Gedanken, als auch in Gefühlen und nach Möglichkeit auch weitestgehend im Handeln. Autonomie ist das Gegenteil von Fremdbestimmung. Ein autonomer Mensch steht im Zentrum seines Lebens und bestimmt, in welcher Art und Weise er nach seinen Möglichkeiten leben möchte.
Autonomie, so wie ich sie verstehe bedeutet, gut bei sich sein zu können. Dafür muss man, wie schon mein alter Yoga-Philosophie-Lehrer Eberhard Bärr sagte, sich selbst aushalten können. Dies ist, wie ihr aus anderen Zusammenhängen bereits gehört habt nicht immer leicht. Manchmal ist es sehr viel leichter zu flüchten und nach außen zu gehen, um mit den Schauplätzen im Inneren nichts zu tun zu haben.

Bindung und Autonomie ist ein Spannungsfeld. Unser Wunsch nach Bindung entspricht dem Wunsch in eine Gemeinschaft eingebunden zu sein und unser Wunsch nach Autonomie entspricht dem Wunsch nach einem eigenen Weg in Freiheit und Unabhängigkeit zu gehen. Bindung und Autonomie sind beides Elemente unserer fühlenden Natur, unserer Biologie und sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sie stehen in einem gewissen Spannungsfeld, dass immer wieder balanciert werden muss.
Meistens in der Pubertät beginnen wir Bewegung aus der engen Bindung zu unseren Bezugspersonen, unseren Eltern heraus und versuchen autonomer zu werden wenn wir sicher gebunden sind gelingt es meistens ohne größere Probleme. Wenn wir das allerdings nicht sind, wenn wir also nicht sicher gebunden sind, müssen wir auf Muster zurückgreifen, die uns wenigstens das Gefühl einer Scheinsicherheit geben. Eins dieser Muster wäre, in die Unverbundenheit zu gehen. Wenn der Wunsch nach Abgrenzung und Eigenständigkeit sehr stark ist, ohne dass ich im Innersten weiß, wie das verbunden sein mit mir und mit den anderen funktioniert, fange ich an zu rebellieren, fange ich an die noch bestehenden Bindungen zu zerreißen, um mich unabhängig fühlen zu können, und mich damit scheinbar in Sicherheit zu bringen. Das sind dann sich widersetzende, aufständische Muster, die im Inneren allerdings so unverbunden sind, dass sie im innersten Kern sehr einsam und verzweifelt sind.

Ein Versuch kann sein, durch übertriebenes Autonomiebestreben Abstand zu dem zu schaffen, was mir gefährlich erscheint, um so Sicherheit in sich selbst zu finden.

Da allerdings auch diese Sicherheit im inneren der Regel nicht vorhanden ist, kann diese Autonomie nicht wirklich wachsen und bleibt eine Maske, mit der ich die Einsamkeit im Inneren verberge.

Die Unabhängigkeit erwächst aus dem Gefühl der Einsamkeit. Keiner ist da, keiner versteht mich, für niemanden bin ich richtig und wichtig, ich mache das besser alleine.

Diese Form der „Autonomie“ entsteht aus der Unverbundenheit. Hier hat die Autonomie so viel Raum eingenommen, dass die Verbindung, die Bindung gelitten hat.

Natürlich ist es toll, auch laut und rebellisch sein zu können, sich widersetzen zu können, aber noch besser ist es, wenn das passieren darf und ich eingebunden bin in eine Gemeinschaft, die mich auch trägt, selbst wenn ich ganz eigene Wege gehe, auch wenn ich anderer Meinung bin und eine andere Haltung einnehme.

Wir alle wissen spätestens seit Corona, dass das bei weitem nicht immer gelingt. Die Kunst ist es also, eine gute Balance herzustellen zwischen Autonomie und Bindung und nicht die Unabhängigkeit zu leben auf Kosten der Bindung. Wenn also Autonomie und Bindung in Balance nicht gelingt, braucht es oft nahezu kindliche Kompensationsstrategien.
Diese Strategien können z.B. sein, andere Menschen herabzuwürdigen, um die eigene Position zu rechtfertigen. Ich kann mich auf eine Position beziehen, die mich bewusst ganz weit von meinem Umfeld entfernt und damit Bindung sehr schwierig macht. Ich kann rechthaberisch oder verurteilend werden und damit allem was verbindet aus dem Weg gehen. Möglichkeiten sich aus Bindungen zu lösen und Strategien zu finden, die das rechtfertigen gibt es viele.

 

Heilsames:
Wege in die Heilung wären, dass ich mir erlaube zu schauen, wo die Ursachen für ein solches Empfinden und ein solches Verhalten liegen.

Ich kann mir anschauen, was ich erwarte, wenn ich eigene Meinung äußere. Erwarte ich von vornherein Unverständnis, Ablehnung, oder Kritik? Erwarte ich eventuell sogar Zurückweisung oder Bestrafung? Es ist wichtig, Klarheit darüber zu bekommen, was ich erwarte, wenn ich in Verbindung mit einem Gegenüber gehe. Erwarte ich einen Freund oder einen Feind?

Der nächste Schritt, wäre, herauszufinden welche Muster und Anteile sich daraus entwickelt haben. Also was habe ich erwartet und welche Anteile und Muster haben sich daraus entwickelt?

Der nächste Schritt wäre dann, ein inneres Bild dafür zu entwickeln, wie es gut wäre, wie es in Verbindung mit dir selbst wäre. Was wäre der wünschenswerte Zustand, indem du dich hinein entwickeln möchtest? Und wie würde der genau aussehen? Wie würde ich mich fühlen, wie würde ich mich verhalten, wie würde ich in Beziehung gehen, was wäre in meinem Leben anders?

Erlaube dir ganz kreativ und neu und intuitiv zu fantasieren. Wenn du ein inneres Bild entwickelt hast davon, wie es sein könnte, bist du in der Lage Strukturen zu entwickeln, die dich darin unterstützen, deinen Weg zu gehen und wie du dieses innere Bild wahr werden lassen kannst. Du kannst erkennen, was sich verändern muss, was kann ich tun und was kann ich lassen, damit dieses Bild wahr werden kann. Mit Strukturen meine ich, dass du dir erlaubst Erkenntnisse umzusetzen und dabei Werkzeuge anzuwenden, die dich stabilisieren. Angebote wahrzunehmen, die dir gut tun. Dich auf Menschen einlassen die dich unterstützend auf deinem Weg begleiten können.

Und auch zu erkennen, was sollte ich lassen. Z.B mich aus Kontexten lösen die mir nicht gut tun, Automatismen hinterfragen.
Es ist sinnvoll zu erkennen, was deine innersten Bedürfnisse sind und was du tun kannst um ihnen gerecht zu werden. Es wird, je mehr in dir unverarbeitet ist, verschiedenste und auch widerstreitende Bedürfnisse geben, z.B. das Bedürfnis zu einer Gemeinschaft zu gehören und gleichzeitig das Bedürfnis frei zu sein. Ich mag dich einladen, beide Bedürfnisse ernst zu nehmen, sie wahrzunehmen, und nach Möglichkeit ein gemeinsames Bild zu kreieren wo beide Bedürfnisse ihren Platz finden können. Eventuell magst du dir sogar vorstellen, dass die anscheinend widersprüchlichen inneren Bedürfnisse sich gegenseitig inspirieren dürfen, um so immer mehr in die Lebendigkeit zu finden.
Und mit diesen Schritten kannst du schauen, was du sowohl im Außen als auch im Inneren tun kannst, um in guter Art und Weise bei dir zu sein. Wenn du dir erlaubst diese Schritte zu gehen, wird es dir Schritt für Schritt möglich sein, von einer vermeintlich sicheren Unverbundenheit in eine wirkliche verbundene Autonomie zu finden. So kann es möglich sein, in eine Wertschätzung sich Selbst und Anderen gegenüber in eine Verbundenheit hineinzuwachsen, die unsere wahre Natur entspricht. Ich wünsche Dir von Herzen viel Freude beim wachsen und in Der Verbindung mit feinfühligen und wertschätzenden Menschen.