Ein Text von Dorothee Maier

Im Folgenden mag ich mit Dir, geneigte*r Leser*in, einen Text teilen, den eine liebe und feine Klientin von mir geschrieben hat. Das über dem Text ihr Name steht, haben wir besprochen und es ist ihr ausdrücklicher Wunsch. Der Text handelt von Todessehnsucht und der Verbindung zum Leben. Mich hat der Text sehr berührt, sowohl wegen seinem bewegenden Inhalt, als auch durch seine ausdrucksreiche, wunderbar schwingende Sprache.

Für Menschen, die von diesem Thema persönlich betroffen sind möchte ich eine Trigger-Warnung aussprechen. Sei achtsam, lies den Text evtl. nicht alleine, oder erlaube Dir, auch mal einen Text-Teil nicht zu lesen. Es gibt nichts zu verpassen. Viel wichtiger ist, dass Du Dich gut um Dich kümmerst.

Eine persönliche Einführung in den Text von Dorothee:

Ich habe Pech gehabt: Ich hatte einen schlechten Start ins Leben. Ich habe Glück gehabt: Ich habe von irgendwoher die Gabe des Schreibens geschenkt bekommen. Ich nutze dieses Geschenk. Wenn mich etwas beschäftigt, dann kann ich mich oft beruhigen über meinen tief beunruhigenden Zustand, indem ich den Laptop aufklappe mit nur den ersten Sätzen eines Textes im Kopf und im Herzen und dann schreibe ich los ohne zu wissen, wohin mich das führen wird. Oft geht es mir besser hinterher. Bei einem Kaffee und einer Zigarette auf dem Balkon kamen mir die ersten Sätze des beiliegenden Textes, sie lauteten: „Ich möchte Worte schreiben wie Kristalle. Ich möchte Worte schreiben wie schöne Blumen.“ Ich bin diesen Sätzen gefolgt, treu gefolgt und bin dabei mir und meiner Wahrheit nähergekommen. Als ich da durch war, als der Text geschrieben und damit die Seele gelüftet war, ging es mir besser. Ich war ruhiger, ich war zufrieden mit mir, ich war nicht mehr wütend über alles, was mir vorenthalten worden ist im Leben, ich war dankbar für das, was ich habe: meine Worte.

Ich möchte Worte schreiben

Ich möchte Worte schreiben wie Kristalle. Ich möchte Worte schreiben wie schöne Blumen. Ich weine dabei. Ich bin traurig. Draußen ist alles ist in Ordnung. In mir scheint wenig in Ordnung. Draußen singen die Vögel, singen in den Abend. Sie singen in den Mittsommerabend hinein. Alles ist in Ordnung. Die Nachbarhäuser stehen auf ihren Plätzen. Sie stehen schon lange dort und werden noch lange dort stehen. Alles ist in Ordnung. Die Menschen wohnen in den Häusern. Die Menschen sind heute Abend nicht draußen in ihren Gärten und auf den Balkonen, denn es ist frisch geworden an diesem Sommerabend. Morgen wird die Sonne wieder warm scheinen, so sagt der Wetterbericht. Alles ist in Ordnung. Auch ich habe den Balkon verlassen, bin in die Wohnung zurückgekehrt. Ich weine an diesem Mittsommerabend. Dabei ist alles in Ordnung. Ich habe eine schöne Wohnung, in die ich zurückkehren kann. Ich habe einen Balkon, auf dem ich dem Abend lauschen kann, dem Gesang der Vögel. Alles ist in Ordnung. Es ist Mittsommer, die Tage sind lang, die Nächte kurz. Das Licht ist groß zurzeit. Es strahlt ungebändigt vom Himmel. Kein Winter mehr, keine kurzen Tage mehr und langen Nächte, es ist licht, es ist hell, es ist Mittsommer. Das Licht feiert sich selbst, es füllt alle Räume. Es leuchtet und strahlt, strahlt, als ob es einen Winter nie gegeben hätte, strahlt, als ob es einen Winter nie mehr geben wird. Es ist Sommer. Es ist alles in Ordnung.

Ich stehe morgens mit dem Licht auf. Ich gehe abends mit dem Licht schlafen. Es ist Mittsommer. Es ist ein schöner Mittsommer in diesem Jahr. Rosen blühen in fast jedem Garten, die Linden blühen und duften. Die Rosen sind rot und gelb und rosa und weiß. Die gelben duften am intensivsten. Es ist Rosenzeit. In der Rosenzeit denke ich immer: das ist die schönste Zeit des Jahres, die Rosen blühen. Dazu ist es hell und licht und leicht. Und schön, wunderschön. Ja, es ist alles in Ordnung. Die Rosen blühen. Die Vögel singen in den Abend. Die Sonne sagt kurz „Gut Nacht“ und verspricht ganz bald wiederzukommen.

Ich will Worte schreiben, Worte wie schöne Blumen, vielleicht wie Rosen. Worte wie schöne Blumen wünsch ich mir so sehr. Worte wie Rosen. Wie, wenn ich Worte fände, die duften? Duften wie Rosen. Die einen mehr, die andern weniger, je nach Sorte und Farbe. Ja, sie sollen wie Rosen sein, meine Worte heute. Blühend, reich, erfüllt, lebendig, schön. Rosen sind nicht prosaisch. Rosen sind die Poeten unter den Blumen. Rosenblätter streut man zu großen Festen. Rosen schenkt man sich, und dann sind es nicht einfach Blumen, die man schenkt, es sind Rosen, die man schenkt. Eine Rose geschenkt zu bekommen ist anders, als irgendeine Blume geschenkt zu bekommen. Das Herz und die Rose. Die Blume der Liebe.

Rosen sind nicht nur die Poeten unter den Blumen, sie haben auch ein zweites Gesicht: Rosen tragen Dornen. Es ist so schön da draußen im Mittsommer. Es ist so schön, wenn die Tage lang sind und die Nächte kurz. Es ist so schön, wenn überall die Rosen blühen und duften. Dann ist die Welt in Ordnung, obwohl die Rosen Dornen tragen, die mich verletzen.

Ich will auch Worte schreiben wie Kristalle, die klar sind, klare Worte. Es ist so vieles in Unordnung. Da draußen, nicht weit weg von hier, ist Krieg. In vielen von uns, ganz nah, ist Krieg und Kampf und Leid. So vieles in Unordnung, so vieles kaputt, zerstört. Stress, Hektik, rastlose Geschäftigkeit, Verantwortungslosigkeit, Gegeneinander statt Miteinander, Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Ich mag nicht daran denken. Ich muss viel zu viel daran denken. So vieles ist in Unordnung. Da draußen. In mir. So setze ich mich hin und schreibe Worte. Ich weine dabei, denn ich bin traurig. Die große Zerstörung da draußen ist auch in mir. Ich suche meine Ordnung. Ich suche, wie meine Welt mal in Ordnung kommen könnte. Wie oft resigniere ich, wie oft meine ich, diese Suche sei aussichtslos. Wie oft bin ich gelähmt, wie oft ohnmächtig, der Gewalt ausgeliefert. Wie oft schon und wie lange bin ich gelähmt und ausgeliefert der Gewalt in mir, die sagt: Ich will dieses Leben nicht, ich will nicht hier sein. Hier ist es nicht schön. Ich will zurück in den Himmel. Wie oft habe ich empfunden, ja, dort, wo es nichts mehr zu fühlen und zu tun gibt, da wäre alles wieder in Ordnung. Da möchte ich so, so gern sein. Wie oft ist und war nichts in Ordnung in mir. Wie oft, wie oft, wie lange, wie immer wiederkehrend. Immer wiederkehrend, auch wenn ich meinte, jetzt, jetzt ist es vorbei mit den Qualen und ich kann hier ankommen auf dieser Welt und ich kann hier sein und ich kann es schön finden und ich kann Frieden haben und nicht Bedrohung, Kampf und Krieg – aber nein, immer kam sie wieder, diese mächtige Sehnsucht wegzugehen, weil es sich falsch anfühlt hier auf Erden und schlimm und unsäglich qualvoll. Wie oft war nichts in Ordnung. Und wenn es mal in Ordnung war, dann war da immer noch die Angst „es“ könne wiederkommen, das vernichtende Gefühl in mir. Und es ist wiedergekommen.

Ich schreibe Worte. Ich schreibe Worte über meine Todessehnsucht, nicht um sie herbei zu bitten, sondern, um Klarheit zu bekommen. Klarheit, das haben Kristalle, klare Formen, klare Strukturen, verlässliche Strukturen, keinen Wildwuchs. Klare Worte, kristallin, die meine Todessehnsucht beim Namen nennen. Nicht um sie zu herbei zu bitten – nein! Nein, ganz sicher nicht, um sie herbei zu bitten, sondern, um mich ihr gegenüber stellen zu können. Ich sehe meine Todessehnsucht und sage mir: Aha, du bist es. Aha, du bist da. Du bist da, auch wenn ich dich nicht sehen und benennen möchte. Nie war es mir so klar wie jetzt, sie ist in mir, die Todessehnsucht. Nie war es so klar wie jetzt. Ich sehe sie und ich benenne sie und damit ist eine neue, große Klarheit in mir. Mit dieser Klarheit kann ich mich dieser Sehnsucht stellen, ihr begegnen, Hallo sagen und ihr die Grenzen weisen. Du bist da. Ich bin auch da. Du füllst mich oft aus und tust so, als gäbe es nur dich. Aber es gibt mehr als dich. Ich bin mehr als du. Ich bin so viel mehr.

Ich lebe. Ich lebe immer noch. Ich lebe tatsächlich noch, trotz all der Sehnsucht, es möge endlich, endlich zu Ende sein. Ich lebe. Ich lebe, ich laufe herum, ich sehe die Rosen, ich atme ihren Duft, ich höre die Vögel, ich bin da. Ich bin immer noch da. Ich bin hier. Ich habe mich schon an vielen Rosen gefreut. Ich habe mich schon an vielen Dornen verletzt. Ich habe schon oft geblutet, weil mich die Dornen erwischt haben. Mein Leben war oft eine Dornenhecke. Ich hatte kein Schwert wie Siegfried, um die Dornenhecke zu bezwingen. Ich hing oft fest in diesen Dornen. Da half es nichts, dass ich mir sagte, dass andere mir sagten, verzweifle nicht, schau auf die Rosen, statt auf die Dornen. Ich habe verzweifelt gekämpft mit den Dornen. Ich hing fest. Dornen überall, um mich, in mir. Ein dorniger Weg durchs Gestrüpp des Lebens. Nichts ist in Ordnung, wenn du in einer Dornenhecke feststeckst. Nichts. Du kämpfst, du verzagst, du kämpfst, du resignierst, du kämpfst, du gibst auf, du kämpfst, du fügst dich der Übermacht. Nicht lustig. Nicht in Ordnung. Die Depression, die posttraumatische Belastungsstörung ist nicht lustig. Nicht in Ordnung. Aber sie ist da. Sie ist da wie der Sommerabend da ist. Sie ist da, wie die Rosen, die blühen. Heute blühen Rosen in mir. Heute finde ich Worte, die Rosenblüten gleichen. Die Worte der Liebe. Die Liebe sagt mir: Du bist so viel mehr als deine Todessehnsucht. Du kannst blühen. Auch wenn die Blüten immer wieder vergehen, es folgen neue Blüten. Es folgen neue Blüten, je nach Rosensorte noch im gleichen Jahr oder im nächsten Sommer. Aber sie blühen wieder, das ist klar. Das ist schön. Das ist gut.

Ja, Rosen haben Dornen. Aber es gilt auch umgekehrt: Dornen können auch Rosen haben. Heute sind es die Rosen, die ich beschreibe. Rote Rosen, gelbe, rosa, weiße, duftende Rosen, denn ich lebe. Ich lebe und schreibe. Heute schreibe ich. Ich weine nicht mehr. Ich liebe es zu schreiben. Heute sind meine Worte Rosen, Rosen an denen ich mich erfreue. Heute sind meine Worte freundlich und klar, sie beruhigen mich, meine Worte, die wie Kristalle sind und Rosen. Für mich habe ich sie aufgeschrieben, denn sie sind klar und sie duften. Sie haben mich zu mir gebracht, sie haben mich beruhigt und getröstet. Ich danke ihnen. Ich danke mir, dass ich sie hergebeten habe. Ich habe sie eingeladen und sie sind gekommen. Ja, meine Worte, es ist gut, dass es euch gibt, ich danke euch, denn ihr seid eine große Kraft in meiner Seele. Ihr seid eine große Kraft in meinem Leben. Ihr haltet mich lebendig, ihr erinnert mich, dass alles in Fluss ist. Gut, dass es Worte gibt. Gut, dass ich Worte habe. Und ach, ihr Worte, vielleicht wollt ihr ja fliegen, euch verströmen wie der Rosenduft. Und, ihr Worte, vielleicht wollt ihr noch andere erfreuen. Ja, ihr Worte, das wäre schön. Danke, ihr Worte, ihr habt mir gegeben, was ich brauchte und jetzt meine Lieben wünsch ich eine gute Reise, ich lasse euch frei.

 

Dorothee Maier Mittsommer 2023